Ich sehe nicht, was du nicht siehst.

In seiner zweiten Einzelausstellung im Projektraum 404 zeigt Stephane Leonard neue Arbeiten auf Papier und Leinwand. Größtenteils stammen diese Arbeiten aus einer im letzten Jahr begonnen Serie namens Nebula.
Leonard zeichnet keine konkreten Dinge. Seine Motive leiten sich nicht von einem Objekt ab und dennoch sind sie nicht abstrakt. Vielmehr handelt es sich um Darstellungen einer Vorstellung von einem „Ding“, wobei dieses „Ding“ sich zunächst einmal einer klassischen Definition von Dinghaftigkeit entzieht. Leonard selbst spricht dabei von „Objekten im Werden und Vergehen“, „Augenblicke einer Pause“. Die Pause, oder der Zwischenraum, leitet sich in Leonards Kosmos von dem ab, was im japanischen als Ma bezeichnet wird. Ma steht für einen Ort zwischen zwei Dingen, zwischen zwei Ereignissen, zwei Momenten. Es beschreibt eine Art mentalen Schwebezustand oder auch die unbewusste Anwesenheit einer Lücke. Diese Lücke wird bei Leonard zur Bühne für die Linie.

Ich sehe nicht, was du nicht siehst. ist eine Abwandlung des berühmten Spiels (Ich sehe was, was du nicht siehst.) und nimmt damit Bezug auf ein kindliches Verständnis von der Welt, den Umdeutungen, den Sprachverzerrungen, der Beobachtungsgabe und der Vehemenz, mit der die eigene Fantasie verteidigt wird.
Stephane Leonard versucht dabei den erfahrenen aber auch im Altern verengten Blick zu rebooten, zurückzusetzen, um Dinge zu behaupten, die sich der Logik entziehen.
Ich sehe nicht, was du nicht siehst. ist eine Behauptung, welche die Kunst und den Betrachter eint. Was man nicht sieht, das ist auch nicht, das kann nicht sein. Gleichzeitig ist es eine Provokation aus einer Flucht nach vorn heraus, die dazu auffordert, genauer hinzuschauen, wobei im Hinblick auf das Ma, dieses Schauen auch ein Tasten und Erspüren sein muss.

In einer Studie von 2011, erforschte eine Gruppe, um den Wissenschaftler James Russell, von der Universität Cambridge, warum Kinder glauben, durch bloßes Augen zuhalten sich zu verstecken?
Halten sich Kinder die Augen zu, denken sie mehr oder weniger unsichtbar zu sein – die Person an sich ist unsichtbar, der Körper jedoch nicht. Nach verschiedenen Versuchen kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass Kinder einen anderen Menschen nur dann sehen, wenn sie die Augen sehen können. Bei jüngeren Kindern geht das sogar soweit, dass sie jemanden nur dann sehen, wenn die Blicke sich treffen.
Jemanden sehen, also erkennen und jemanden sehen und nur seinen Körper im Blickfeld wahrzunehmen, sind bei Kindern zwei verschiedene Dinge, die erst später wieder im Bereich der Philosophie und der Esoterik eine Rolle spielen können. Die Traditionelle Chinesische Medizin hat für das „Erkennen“ ein Wort – Shen – beschreibt möglicherweise das, wonach die Kinder suchen. Ein Leuchten aus den Augen, ein inneres Strahlen.

In diesem Sinne laden wir Sie ein, sich die Arbeiten von Stephane Leonard anzuschauen und anzusehen und gemeinsam Ihre Spannungsfelder und das Leuchten zu erforschen.

Stephane Leonard, 1979 geboren in Berlin, lebt und arbeitet in Brandenburg.
Leonard studierte zunächst Philosophie und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin (2001–2002) und dann Freie Kunst mit den Schwerpunkten Zeichnung, Film/Video und Klang in den Klassen von Prof. Paco Knöller (Meisterklasse) und Prof. Jean-François Guiton an der Hochschule für Künste in Bremen (2002–2008). Als Künstler ist er seit 1995 aktiv, zunächst im Bereich der Street Art, später als Maler, Zeichner und Videokünstler. 2007 gewann Leonard den Videokunstförderpreis der Stadt Bremen. Darauf folgten weitere Auszeichnungen auf Filmfestivals für verschiedene Videoarbeiten, sowie Artist in Residencies in Norwegen und Portugal, diverse Einzel- und Gruppenausstellungen, zwei Ausstellungs-Stipendien der Stadt Berlin mit großformatigen Zeichnungen, Klang und
Videoarbeiten und das Atelierförderstipendium des Landes Brandenburg.